Prof. Lutz Göcke postete auf LinkedIn eins meiner Lieblingszitate von Mike Tyson „Everybody has a plan. Until they get punched in the face“. Das ist nicht nur lustig, es ist auch insofern wahr, als dass heutzutage Pläne und Wissen schnell ihren Wert verlieren. Wichtiger wird das Reagieren auf Veränderungen. Nach meinem Artikel über die große Veränderung der Rolle „Führungskraft“, hier Teil 2 – die große Veränderung der Expertenrolle.
Ich bin ja innerlich noch immer ein Anhänger der These 10% Talent + 90% Schweiß, auch wenn sie wohl falsch ist. Mit Talent ist wirklich das Angeborene, vielleicht noch das früh Erlernte gemeint. Mit Schweiß ist gemeint, dass man üben muss. Üben üben üben. Viele von uns kennen die magische Zahl 10.000 Stunden, die einen Experten machen sollen. Forschungen und Publikationen von Gladwell und Ericsson schienen uns seit 20 Jahren nahezulegen, dass ein Meister seines Fachs ca. 10.000 Stunden üben musste. Diese Zahl ist zumindest Mumpitz.
Erstens bezeichnete die Zahl lediglich, dass sehr gute Musikstudenten bis zum 20. Geburtstag ungefähr so viel geübt hatten. Man kann also auch sagen 15.000 Stunden bis 25 oder 7.500 Stunden bis 18,2 Jahre. Etwas beliebig das Ganze. Zweitens bezog sich Gladwell vor allem auf Musikunterricht und Sport, und dann mutmaßte er was über die Beatles, Bill Gates und andere. Wie wird man also Experte? Und in was? Und wie ändert sich die Rolle im Arbeitsalltag angesichts der Strömungen VUCA, Agilität, Ownership, T-Shape und flacher Hierarchien? Um diese und andere Fragen geht es hier…
Hier zuerst ein längeres Zitat einer Forschungsgruppe aus Princeton zum Thema „Erfolgreich durch Übung?“
More than 20 years ago, researchers proposed that individual differences in performance in such domains as music, sports, and games largely reflect individual differences in amount of deliberate practice, which was defined as engagement in structured activities created specifically to improve performance in a domain. This view is a frequent topic of popular-science writing—but is it supported by empirical evidence? To answer this question, we conducted a meta-analysis covering all major domains in which deliberate practice has been investigated.
We found that deliberate practice explained …
– 24% of the variance in performance for games,
– 23% for music,
– 20% for sports,
– 5% for education, and
– 1% for professions.
We conclude that deliberate practice is important, but not as important as has been argued.
https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0956797614535810 und leichte Korrektur hier: https://journals.sagepub.com/na101/home/literatum/publisher/sage/journals/content/pssa/2018/pssa_29_7/0956797618769891/20181204/images/large/10.1177_0956797618769891-table1.jpeg
Meine Schweiß und Tränen-Einstellung von oben legte eigentlich den Schluss nahe, dass es zunehmend schwer wird, bis zur Rente überhaupt ein Experte in irgendwas zu werden, außer in Atmen, Radfahren und Fortnite. Die Gründe wären, dass man ein und dieselbe Tätigkeit heute gar nicht mehr 10.000 Stunden lang wiederholt (also richtig fleißig übt), sondern zunehmend den Job wechselt, oft ziemlich multidisziplinär / generalistisch arbeitet, ohne Übungseffekt Dinge erledigt, oder dass die Methoden, die man perfektionieren könnte, sich inzwischen selbst ständig verändern (wer war vor 5 Jahren Design Thinking „Experte“ und wer ist es heute plötzlich alles?). Das wäre aber angesichts der Ergebisse der Princeton-Studie nun ganz anders zu sehen:
Ein Großteil aller Experten ist keiner. Und wird auch keiner. Es sei denn…
Prof. Göckes Tyson-Zitat zeigt außer der Priceton-Studie noch eine zweite Komponente auf: Planen ist out, Probieren und Reagieren ist in. Angesichts der immer unberechenbareren Welt spreche ich vom Wandel „Execution to Experimentation“. Wer sich noch nicht mit den Begriffen VUCA und Red/Blue Ocean auseinandergesetzt hat, möge das schnell noch tun. VUCA sagt, wir wissen eh nicht, was morgen ist, also lass uns das Probieren professionalisieren. Red/Blue Ocean sagt, dass man in etablierten Marktumfeldern ganz anders agieren muss als in den Goldrausch-Zuständen z.B. der digitalen Welt, wo man per Geschwindigkeit und Skalierung die Winner-Takes-It-All Märkte erobern will (und kann). Hier wird jedes Talent (oder jede Expertise?) gebraucht, um dieses Große Gestalten zu koordinieren, zu facilitieren. Darin liegt eine Chance für Fachleute mit Ambition auf überfachliche Aufgaben.
Wie nun soll man aber nun ein Experte in irgendwas werden – in einer Welt der vielen Jobwechsel, in der man weder weiß was morgen angesagt ist noch, welche Technologien übermorgen benötigt werden? Was soll man denn jetzt noch 10.000 Stunden üben? Oder reichen 5.000, wenn ich schnell mache? Und es waren ja auch Geigen… Warum sollte man etwas üben, wenn Prinecton doch sagt, im Beruf sei „deliberate practice“ quasi irrelevant für den Erfolg?
Ist dann die eigentliche, wichtigste Expertise, die alle angeht, Experimentation? Versuche designen, daraus lernen und iterativ immer weiter entwickeln?
SCRUM Teams müssen aus so und so vielen Experten bestehen, sagt man. Und diese Experten haben T-Shaped Skills, sagt man. Damit ist gemeint, dass sie eine Sache richtig tief durchdrungen haben, wodurch sie ihren Expertenbeitrag zum Team leisten (z.B. Datenbanken beherrschen) – und mehrere andere Dinge ‚ganz gut‘ verstehen sollen, damit sie rechts und links aushelfen, verstehen, mitdenken können (z.B. Frontend Programmierung, rechtliche Themen und Nutzerverhalten). Nun ist vielleicht <1% der Menschheit in SCRUM Teams organisiert, aber akzeptieren wir mal die Annahme, dass sich so ähnliche interdisziplinäre Teamkonzepte stark verbreiten werden.
Dann käme nämlich noch was hinzu: In letzter Zeit höre ich immer öfter „Softskill ist das neue Hardskill“. Damit ist gemeint, dass in solchen neuen interdisziplinären Teams Fähigkeiten/Eigenschaften an Bedeutung gewinnen, wie Veränderungs-Lust, In-Szenarien-Denken, in interkulturellen Teams anschlussfähig sein, kontinuierliche Verbesserung organisieren, Argumentieren, Verhandeln, Kommunizieren, Kundenzentrierung, ‚agiles Mindset‘, lebenslanger Lernwille, Lernkompetenz, Inspirationsfähigkeit, … Und hingegen zweitrangig (nicht irrelevant) werden: Rechnen, Schreiben, Lesen, fleißig sein, benehmen, Excel programmieren, Produkt in- und auswendig kennen, … Wir haben also jetzt ein kleines Schlammassel:
1. Das Unangenehme: Versuch und Irrtum kann man lange üben, man wird darin nicht wirklich ‚Experte.‘ Früher hat man hunderte von Schränken geschreinert und hatte den Dreh dann raus. Man konnte Schränke schreinern. Da kamen hinten top Schränke raus. Es wurde erlernt, wie das Ziel erreicht wird.
Wenn man aber Experte für Experimente, MVPs und iteratives Ranrobben ist, weiß man nicht, was hinten raus kommt. Überspitzt gesagt. Da kommt halt ein MVP raus. Oder auch nur ne Fuck-Up-Night (Misserfolge feiert man heute auch). Klar, man kann die Routinen, mit denen man etwas ausprobiert, abklopft, bewertet und dann daraus lernt, mit der Zeit im Blut haben. Aber es ist was anderes als top Schränke liefern. Es ist ‚den Weg meistern‘, nicht mehr das Ziel.
2. Die landläufige Meinung, das Übung den Meister macht, hat einen Haken. Ich sage ja nicht, das Meister ohne Übung auskämen. Ich sage nur: Millionen üben, kaum einer wird excellent. Die 10.000 Stunden aus dem Hause Gladwell und Ericsson werden aus 2 Gründen grob missverstanden, wenn man denkt, nach 10 Jahren „Buchhaltung machen“ sei man „Experte in Buchhaltung“:
Erstens sagen die beiden „üben“. Das heißt zum Beispiel bei der Geige Tonleitern schrubben, nicht „Lieblingslieder fiedeln“. Fragt sich, ob Buchhalter 4 Stunden täglich knallharte Buchhaltungs-Übungen absolvieren. Zweitens is die untersuchte Gruppe der Musikgenies und Spitzensportler doch vorselektiert! Welcher Depp übt denn 10.000 Stunden zuende, wenn er früh merkt, dass er nun echt kein Talent hat? Hartes Üben ist doch auch Selektieren. Und da bleibt halt nach 10 Jahren vor allem eine professionelle Weltspitze übrig (und ein paar arme Kinder mit überambitionierten Eltern).
3. Brooke Mcnamara hat doch bestätigt, dass Üben im Beruf kaum eine Rolle für den Erfolg spielt. Zwar kam auch heraus, dass alle üben / lernen müssen, um exzellent zu werden. Aber frappierend war, dass Intelligenz, Persönlichkeit, Talent viel wichtiger zu sein scheinen. Ein Gedankenexperiment, um meine Schweiß-und-Tränen-Einstellung herauszufordern: Angenommen ich lasse eine Seegurke üben, meine XBOX anzuschalten. 10.000 Stunden lang. Und daneben stelle ich meine 2 1/2 jährige Tochter. Sagen wir mal 10 Stunden. Schach matt. Ok, ihr werdet sagen, beide werden aber keine Experten. Dann schaut euch mal meine Tochter in 5 Jahren an. Und daneben die Seegurke. Ganz klar: wenn man so ein polarisierendes Gedankenspiel macht, stimmt jeder zu, dass Intelligenz viel wichtiger ist als Übung.
Ja, man braucht Intelligenz überhaupt erstmal, um gut zu üben und daraus lernen zu können! Und das gilt genauso wenn man normale Menschen vergleicht. Der eine versteht eine völlig neue Sache nach 10 Minuten, ein anderer nie. Nie, nie nie! Beide können üben. Der eine sollte es lassen. Und da sind wir bei der Lösung.
Die Lösung: Ihr müsst euch entscheiden – Erfolg als Experte oder Experte für Erfolg
Der Clou ist, dass gerade diese Dinge, die manche ganz schnell verstehen, und andere nie, nie nie – dass das gerade doch die zukunftsentscheidenden Dinge sind. Mathe, Code, Kreation, Zahlen, Design, Recht, Märkte, Strategien, Szenarien, Menschen, etc. etc. etc. Das alles kann weder eine Seegurke noch ein Untalentierter wirklich üben. Dinge, die man so richtig schön üben kann hingegen, die kann erstens auch bald Kollege Computer üben (und zwar etwas schneller als 7,400 Stunden), und zweitens sind sie halt – eben – erlernbar. Also werden sie von vielen Menschen gelernt werden. Weil sie zur Schule gehen, auf die Uni und ins Praktikum. Und sie fummeln sich dann halt so rein in die Materie. Und nach 10 Jahren (oft früher) nennen sie sich eventuell Experten. Und wahrscheinlich sind sie das dann auch: sie produzieren Kraft ihrer Expertise top Schränke, top Code, top Designs. Eventuell ohne viel Talent.
Aber wenn sich alles so schnell verändert wie wir denken, wenn die Schränke, Code und Designs sich jedes Jahr verändern, wenn Wissen (Expertise) schnell veraltet und wenn der Computer auch noch den Job streitig macht, dann ist man wahrscheinlich immer öfter ein erfolgloser Experte. Ein Gruß an alle Sattler, Kfz-Ölnachfüller und Typo-3 Redakteure. Es gibt schon erste Stimmen, die sagen, reine Coder sind die neuen Malocher. Sie können eine Sache und machen die den ganzen Tag. Wenn das dann keiner mehr braucht, gucken sie in die Röhre. Man ist als Experte dann in seiner Tätigkeit erfolgreich. Und darauf angewiesen, dass irgendjemand diese Tätigkeit weiterhin einkauft.
Was inzwischen aber immer öfter gemeint ist (ich füge noch die Buzzwords Intrapreneurship und End-to-End-Verantwortung hinzu), ist doch, das intersdisziplinäre Teams sich selbst zum Erfolg bringen müssen. Und dann das nächste große Ding kreieren. Wieder grüne Wiese. Sich selbst neu erfinden. Eventuell fusionieren, disrumpieren, adopten. Permanent Change. Lebenslang lernen. Anpacken, wo es gebraucht wird (Personal Kanban als weiteres Buzzword), in ggf. vielen Rollen gleichzeitig performen. Unter Zeitdruck, Kostendruck, Peer Pressure. Seinen eigenen Job selbst optimieren. Ggf. sich selbst überflüssig machen, den eigenen Job automatisieren. Das kann man wirklich nicht in 7.400 Stunden lernen. Dazu ist die eine veranlagt, und der andere geht dran kaputt. Letzterer sollte sich lieber entscheiden, möglichst erfolgreich Experte zu sein. Erstere aber hat die Chance, auf der Welle zu reiten und Expertin für Erfolg zu werden.
Da steht meiner Meinung nach gerade ein ganz faszinierender Wandel ins Haus. Wo Führung sich neu definiert und diese neue Art von Experten entstehen, entwickeln sich auch neue Freiräume. Unternehmerische, hierarchische und karrieremäßige Freiräume für Experten. Gleichzeitig wird die Berufswahl, oder Karrieregestaltung, viel wichtiger. Denn warum einen Beruf ergreifen, in dem man nicht talentiert ist und dann üben üben üben? „Mach doch, wo de kannst“ sagte mir ein Bekannter auf seine simple geniale Art einmal.
Zusammenfassung
- Irrweg: Falschen Job antreten, an diesem klammern und üben üben üben, um gut zu werden
- Richtiger Weg: Herausfinden, wo Deine Talente sind und dann üben üben üben um exzellent zu werden
- Statt Training und Personalentwicklung auf Kompetenzebene ist viel wichtiger, die richtigen Leute an die richtigen Stellen zu bekommen
- Es entsteht gerade eine spannende neue Schicht von Experten zwischen den Fachleuten und Führungskräften. Vielleicht ist das was für Dich?
- a) entscheide Dich für eine Fachkarriere und habe Erfolg als ExpertIn, stelle Dich dann aber den folgenden Fragen: mögliche Wissensveraltung, fachliche Sackgasse, Irrelevanz, kleines Rädchen im Getriebe sein, evtl. den größeren Kontext vermissen, …
- b) oder entscheide Dich für eine aufregende Reise als ExpertIn für Erfolg, was nicht hochtrabend klingen soll, sondern meint: Permanentes neu erfinden koordinieren, neue Revenue Streams erobern helfen, neue Produkte und Services aus dem Nichts kreieren helfen, TShaped werden, Softskills raufschaffen. Stelle Dich dann aber den Fragen: Experte für was bin ich eigentlich genau? Wie finde ich meinen Platz zwischen den echten Fachleuten auf der einen Seite und den neuen Führungsfunktionen auf der anderen? Wie bleibe ich oben auf der Welle? Kenne ich die aktuell gültigen Buzzwords? Sind meine Methoden wirkkräftig? Entsteht wirklich unternehmerischer Erfolg oder ziehe ich lediglich erfolgreich Methoden aus irgendeinem hippen New Work / Agile / Design Thinking Lehrbuch durch bzw. programmiere ich einfach nur die 1000ste Hype App (dann wärst Du nämlich Kategorie A).