Es soll Firmen geben, die mit ihrer Angstkultur zwar Höchstleistungen provoziert haben und phasenweise große Unternehmenserfolge erzeugen konnten, jedoch irgendwann gegen die Wand gekracht sind. Angst und das Setzen irrational hoher Ziele, ja sogar mehrerer strikt konträrer Ziele, führt zu „Impression Management“ wie es die Zeitschrift ORGANISATIONSENTWICKLUNG in ihrer aktuellen Ausgabe nennt. Durch Illusionen, Rhetorik und allerlei Tricks wird nach innen und außen signalisiert „Wir haben für die widersprüchlichen Ziele eine geniale Lösung! Alles im Griff“, weil sonst der eigene Kopf rollen würde. Ähnlich einer Diktatur bleibt allen, denen ihr Leben lieb ist, nur noch, dem Diktator zu melden, was er gemeldet bekommen will. Doch auch mit einer Wohlfühlkultur kann es gewaltig in die Hose gehen.
Melodien für Melonen
Dass Angstkulturen nicht dauerhaft erfolgreich sind, wird sicherlich irgendwo in der Forschung ausgiebig behandelt. Auch wenn es sicherlich Gegenbeispiele als Ausnahmen gibt, wird jedem einleuchten, dass es nicht sinnvoll ist, wenn alle Teilprojekte vor lauter Existenzangst das Melonenspiel spielen: die Melone ist außen GRÜN, wenn man reinschaut, ist sie ROT. Beim Melonenspiel, meldet jedes Teilprojekt, es sei „on track“. Natürlich ist nichts on track. Aber wenn man nur lange genug durchhält mit diesem Impression Management, dann muss vielleicht ein anderes Teilprojekt früher eingestehen „wir schaffen es nicht bis zur Deadline“. Dann kann man erleichtert die Verschiebung der Deadline genießen und bekommt eine neue Chance „on track“ zu kommen. Schuld am Verzug ist man zumindest nicht gewesen. Angstkulturen fördern keine Ehrlichkeit, die muss man da unter enormem Risiko schon selbst aufbringen.
Der Artikel in der ORGANISATIONSENTWICKLUNG ist übrigens nicht lesenswert. Er hat kaum mehr zu bieten, als 30 min Wikipedialektüre auch liefern würde. Schade, da 4 hochkarätige Autoren genannt werden.
Apropos geringe Teamleistung: auch ohne Angst kann eine Organisation ganz schrecklich unperformant werden!
Und zwar dann, wenn alle in Wohlfühlatmosphäre baden, und keiner eine ausreichende Ahnung hat, was hier gerade passiert. Darum soll es heute ja gehen. Im Laufe meiner ca. 20 Jahre Erfahrung mit Führungskräften unterschiedlicher Branchen, habe ich sehr effektive, eingespielte, funktionierende Kulturen kennengelernt und sehr träge, outputarme, die unter vielen Irritationen und Frust litten. Und letztere waren nicht immer Angstkulturen!
Beispiel: wenn mehrere Teilprojekte voller Elan, mit dem passenden Framework, Millionenbudget und Obstteller ausgestattet, losrocken, dann ist die Stimmung erstmal super. Es wird gerngeduzt (so nenne ich es, wenn Duzen ein wenig over the top gehyped wird), Hierarchien sind super flat und Fehler – hey, Fehler sind doch super, da kann man nur von lernen! #fuckupnight.
Hier hat keiner Angst. Hier rollen vielleicht mal Augen, aber keine Köpfe. Und trotzdem habe ich GENAU DIESELBEN Phänomene wie in Business-Diktaturen auch hier bemerkt, nur aus anderen Gründen:
- Aus „Angst“, zu sehr zu kritisieren, wird die harte Wahrheit weichgespült
- Weil keiner mehr durchgreifen will, reden zu viele bei zu vielem mit und es gibt keinen Fokus mehr, keine Prioritäten, keine schmerzhaften Richtungsentscheide
- Weil das „fiese Genie“ an der Spitze fehlt, dass alles bis ins Kleinste durchdringt, und alle mit seiner/ihrer Vision vor sich her treibt, sondern alle nur noch auf „die Experten“ hören möchten – merkt niemand, dass die vielen Pseudo-MVPs, Piloten, Bruchstücke und Restposten am Ende zusammengesetzt niemals einen Transformer ergeben, sondern höchstens Leipziger Allerlei des Grauens
- Weil keiner den Dingen penibel auf den Grund geht, man sich gegenseitig „machen lässt“, haben wir vielleicht weniger topdown implementierte Zielkonflikte, aber es wachsen Zielkonflikte bottomup von alleine heran
Und das Melonenspiel beginnt erneut. Nicht aus Angst, sondern aus organisationellem Unvermögen. Es ist nur keine Melone (außen grün, in Wirklichkeit rot), sondern die Teilprojekte sind jetzt Smarties. Bunte Mischung und nach außen alles knackig, aber innen braune Durchschnitts-Masse.
Wohlfühlkukucksheim
Doch vor lauter super Kultur fällt das nicht auf. Keiner schreit: „wir sind zu doof! Wir habens nicht drauf!“, „Patrick muss weg, der kanns nicht!“ Oder „wir müssen das 5 mal besser machen als geplant, sonst ist das Endprodukt Mittelmaß!“ Keiner hat diese Rolle. Wenn doch mal einer sowas äußert, ist er schnell oldschool und Anhänger der überkommenen Angstkultur, zu pushy, oder toxisch. Anstatt in der Hölle aus Angstkultur + Zielkonflikten schmort die Organisation nun langsam wie der Frosch im Schokofondue: am Anfang voll schön. Doch wenn es kocht, ist es zu spät… quak. Wenn dann auch noch (übertriebener) Bohei um New Work, Awareness und Resilienz hinzukommt und eine Prise übersteigerter Kreativ-Individualismus a la jede/r immer alles nach seiner Fasson, dann nenne ich das Wohlfühlkukucksheim.
Nun kann keiner ernsthaft zu Führung durch Angst zurück wollen. Die spannende Frage ist also: wie sorgen relativ Angstfreie und hierarchiearme Organisationen für klugen Fokus, harte Prios, ganzheitlichen Durchblick und hohe, sportliche Kritikbereitschaft? Für dringend nötige Richtungsentscheidungen? Für das Erkennen unangenehmer Wahrheiten? Für Disziplin, Liefertreue, Qualitätsanspruch? Wer fordert Einsichtsfähigkeit ein? Wer kritisiert und sagt auch mal „love it, change it or leave it!“?
Es ist unbedingt wichtig, sich auch mit diesen Dingen zu beschäftigen. (Hier in einem früheren Artikel schonmal angemahnt)
Das sind Dinge, die allesamt nicht neu sind. Die anstrengen, und die manche uncool finden. Die auch irritieren können, wo doch einige meinen, dass man gerade erst losgegangen sei auf dem Weg zu Hierarchiefreiheit, Future Work, Fehlerkultur, Selbstorga, Expertenorganisation, Gewaltfreier Kommunikation, Trial+Error und all diesen hehren Zielen.
Richtig, richtig gut seid ihr als Team/Organisation aber eben nur, wenn ihr genialerweise – und hier schließt sich der Kreis – sich scheinbar widersprechende Ziele erreicht!