Kultur wird individuell konstruiert – „die Kultur“ gibt es nicht

So, heute wird es wieder polemisch, aber so macht es halt am meisten Spaß. Und ich habe ja auch Recht: Kultur wird immer gern definiert als „was wir hier so machen“. Definition Wikipedia „Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbstgestaltend hervorbringt – im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur.“ Definition Gabler Wirtschaftslexikon: „Unter Kultur (von lat. „cultura“, „Bearbeitung, Anbau, Pflege“) wird das vom Menschen materiell und immateriell Geschaffene verstanden, im Gegensatz etwa zur Natur.“ Definition Merriam Webster (grob zusammengefasst): Geteilte Werte, Verhaltensmuster, Lebensweisen… Und jetzt komm ich. Unternehmenskultur ist zwei ganz unterschiedliche Dinge zur selben Zeit – einmal das was da oben steht, und einmal das, was jede(r) Einzelne sich konstruiert. Und nicht zu knapp. Was heißt das für Führungskräfte, Changeberater, Moderatoren? Darum geht es mir heute.

Kultur wie sie im Buche definiert ist, ergibt sich tatsächlich aus den vielen einzelnen gemeinsamen Verhaltensweisen, Werten etc. aller Individuen in der Firma. Oft wird aber im Zuge von Changevorhaben versucht, die IST-Kultur und die SOLL-Kultur aus den Individuen herauszukitzeln. Ich wage mal ein drastisches Vergleichsbild – stellt Euch vor Ihr wäret ein Krankenhaus. Und nach dem Motto „Wie geht’s uns denn heute?“ werden alle Patienten eines Krankenhauses zum „Gesamt-Krankheitsbild“ befragt. Was kriegt man da an Rückmeldungen? Wahrscheinlich alles zwischen „ich habe Schnupfen“, „ich will nach Hause“, „mein Bein ist ab“ und „wo gibt’s hier Kaffee?“.

Das kann man dann in eine Tabelle packen und sagen: 10 Beine sind ab, 25 finden den Kaffee nicht, .. usw. Was man aber nicht machen sollte, ist alle Rückmeldungen zu einer Pampe aggregieren und sagen: „So geht es im Durchschnitt den Menschen im Krankenhaus“. Denn dieser Durchschnitt trifft dann auf so gut wie keinen einzigen wirklich zu!

Erstens sind solche Umfragen ja nur Selbsteinschätzungen – es fehlen im Beispiel die fachlichen Bewertungen der Ärzte. Und zweitens werden bei solchen Aggregierungen dann Kategorien vermischt, die in Realität nicht zusammenfallen. Es könnte zum Beispiel herauskommen: Dem durchschnittlichen Patienten geht es so: „Er will nach hause, hat noch alle Gliedmaßen, hat kein Corona, ist nicht schwanger und würde gern einen Kaffee trinken“. Banal oder? Alle Merkmale, die die Menschen wirklich unterscheiden und die sie aktuell wirklich individuell umtreiben (Bein ab, Frühgeburt, Lungenembolie, …) , werden durch die Aggregierung und Durchschnittsbildung weggebügelt.

Drei Beispiele, für ziemlich nutzlose Umfragen aus dem Bereich „Kultur & Stimmung“:

  1. Ich lese so oft in den Medien: „Alarm! 40% sind unzufrieden mit…“ aber kein Wort zu den 60%, die ja scheinbar zufrieden sind. Manchmal fehlt sogar eine Erläuterung, ob das 40% aller Menschen sind oder nur 40% derer, die geantwortet haben. Geschweige denn, Details zu den Gründen für die Unzufriedenheit.
  2. An unserer Uni damals gab es eine Umfrage, wie zufrieden die Leute mit der Kantine sind. Die Box zum einwerfen stand wo? Direkt vor der Kantine… ich hab laut gelacht. Warum stand die nicht gegenüber, bei MC Donalds, so dass auch die gefragt werden, die geflüchtet sind? (ich fand die Kantine übrigens super)
  3. Anfang der 2000er hat die FDP mal eine Umfrage gestartet, wer inzwischen das Internet wie intensiv für politische Informationsbeschaffung nutzt. Die Umfrage war online…

Umfragen im Kulturbereich sind meist noch viel komplexer als diese drei Beispiele. Diese zielen ja im Prinzip auf sehr klare Fragen ab – und trotzdem sind sie recht nutzlos. Wenn Du nun versuchst, alle Individuen in Deinem Unternehmen einzeln zu befragen, und dies auch noch zu zig Aspekten, dann kriegst Du als Summe hinten raus keine Auskunft zur Unternehmenskultur!

Du kriegst

  1. ein unvollständiges Bild, da nicht alle antworten
  2. ein unvollständiges Bild, da die Leute sehr unterschiedlich detailliert antworten,
  3. ein verzerrtes Bild, da einige ganz fokussiert für sich antworten, andere „im Namen vieler“ irgendwas Aggregiertes vertreten,
  4. ein verzerrtes Bild, weil die Menschen Kultur individuell konstruieren und zwar meist anhand von wenigen einzelnen Beispielen, die sie sehr begeistern oder total anwidern. Speziell dazu im Folgenden mehr.

Das Fazit heute aber schon mal an dieser Stelle: Addiere nicht Unmengen einzelner Aussagen über „die Unternehmenskultur“ zu einem Gesamtergebnis auf!

Herr Müller hat ne Meinung

Herr Müller ist super. Fachlich gut drauf und zwischenmenschlich seit langem mit keinem verkracht. Die Arbeit macht ihm Freude. Und hinter dem Produkt steht er auch. Ihm liegt viel an Gerechtigkeit, dafür tritt er ein. Fragt man ihn nun eines schönen Morgens nach der Unternehmenskultur, glühen seine Augen rot und seine Zähne wachsen auf 4cm Länge, er faucht: „Beschissen!“ Nachfrage: können Sie das genauer beschreiben? „Der Finanzdirektor Haumichblau hat die Frau Sowieso geheiratet und nun hat die Sowieso bei einer Tochterfirma einen Job. Wir leben in einer Unrechtsfirma!!!“ Aha, verstehe, und im weiteren Sinne – wie erleben Sie die Unternehmenskultur sonst? „Sonst alles prima. Aber solange das mit der Sowieso geduldet wird, in dieser Bananenrepublik hier, solange mach ich Dienst nach Vorschrift!“ Herr Müller ist wütend. Auf eine ganze Firma. Wegen eines Gerüchts, (zu dem ihm vielleicht sogar ein paar Details fehlen könnten).

Frau Schmidt bemerkt keinen Kulturwandel

Frau Schmidt ist super. Fachlich gut drauf und zwischenmenschlich seit langem mit keinem verkracht. Die Arbeit macht ihr Freude. Und hinter dem Produkt steht sie auch. Ihr liegt viel an Harmonie, dafür tritt sie aber nicht ein, sondern sie wünscht sie sich halt. Fragt man sie nun eines schönen Morgens nach der Unternehmenskultur, sackt sie in sich zusammen und ihr Gesicht wird ein bisschen gräulich, sie seufzt: „Beschissen!“ Nachfrage, können Sie das genauer beschreiben? „Die Oberkreisrätin Hierundda hat den Kollegen Dittunddatt sowas von runtergeputzt neulich in dem riesen Meeting vor allen Leuten. Hier ist alles wie früher, trotz aller Kulturprogramme.“ Aha, verstehe, und im weiteren Sinne – wie erleben Sie die Unternehmenskultur sonst? „Sonst alles prima. Aber solange sowas wie mit dem Dittunddatt geduldet wird, in dieser Tyrannenherrschaft hier, solange mach ich Dienst nach Vorschrift!“ Schmidt ist erschöpft und enttäuscht. Von einer ganzen Firma, wegen eines Vorkommnisses, bei dem sie nicht dabei war (und welches vielleicht sogar ein klein wenig anders gelaufen sein könnte).

Ich könnte hunderte solcher Beispiele aufzählen. Und ich könnte schreiben, dass Frau Sowieso ihren Vertrag vielleicht schon vor der Hochzeit in der Tasche hatte. Oder dass Herr Dittunddatt sich trotz angespannter Gesamtlage in dem Meeting ziemlich schlecht vorbereitet und patzig verhalten hat und sich die paar klaren (und überaus sachlichen) Worte von Oberkreisrätin Hierundda selbst eingebrockt hat.

Und würde man die beiden „Angeklagten“ dieser Fallbeispiele – wenn man sie nach der Unternehmenskultur befragen würde – nicht vielleicht sagen: „Extreme Neidkultur hier, das geht soweit, dass man mir in meine Heirat reinreden will“ bzw. „Die Kultur ist kaputt! Kaum einer strengt sich mehr an und wehe man sagt was dagegen, dann gibt es gleich Eskalation“.

Fazit

Die Summe all dieser Anekdoten, Meldungen, Einschätzungen, Abstimmungsergebnisse ergibt in keiner Weise ein klares, vollständiges Bild Eurer Unternehmenskultur im Sinne der Definitionen oben („Kultur ist, was wir insgesamt hier so machen, etc.“). Du kriegst stattdessen garantiert einen Eintopf völlig zugespitzter Aussagen, die auf frappanten, intensiven, singulären Einzelerfahrungen beruhen, die die befragten Personen halt in letzter Zeit so umtreiben. Du kriegst nicht mal einen Eintopf, sondern eine künstliche Sauce voller selektiver Wahrnehmungen.

Meistens sind die Beispiele und Beobachtungen der Menschen, auf denen ihre Wahrnehmung basieren auch gar nicht profund belegt. Je mehr das Erlebnis eine Auswirkung auf das Kultur-Empfinden hat, desto höher ist das Risiko, dass es sich um ein Gerücht handelt, man selbst gar nicht dabei war oder die Hintergrunddetails vertraulich sind oder unbekannt. Der Vorstand hat…, die Chefin macht doch selber nicht…, der Kollege kommt mit sowas durch, usw.

@Moderatoren und Changemanager / Kulturbeauftragte / Berater etc.: Addiere nicht hunderte einzelne Aussagen über „die Unternehmenskultur“ zu einem Gesamtergebnis „Unternehmenskultur“ auf! Dafür musst Du viel mehr Feldforschung betreiben und selbst ein Mosaik zusammensetzen. Darin enthalten sollten auch Fremdwahrnehmungen sein, Expertenbefunde und Langzeitergebnisse statt Einzelereignissen.

@Führungskräfte: Ein einziger Fehltritt macht manchmal alles kaputt. Heiratet Frau Sowieso nur, wenn ihr sie wirklich liebt 😉 Ansonsten: Bleibt ohne Fehl und Tadel und räumt Gerüchte energisch und öffentlich aus der Welt. Es mag unmöglich sein, genau zu bestimmen wie die Kultur in deinem Team IST – aber richtig bleibt: Kultur ist, was ihr draus macht!

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