In dieser Serie beleuchten wir Denkfehler – sogenannte psychologische Biases – was sie für den Berufsalltag bedeuten können und wie man sie vermeiden kann.
Menschen können sich besser an Objekte oder Informationen erinnern, die sich klar von der Umgebung abheben. Dieser Effekt wurde 1933 von der deutschen Psychologin Hedwig von Restorff entdeckt. Lernpsychologen und Marketingspezialisten machen sich das zunutze. Aber es gibt auch Tücken. Wie Du als Entscheider diese vermeidest, erkläre ich Dir in diesem Artikel.
Der von Restorff Effekt beschreibt, dass Du dir den Hirtenhund besser merken wirst als die 50 Schafe, in denen er sich tummelt. Oder den Böllerknall, der kurz das stundenlange Vogelzwitschern unterbricht. Du merkst Dir das, was heraussticht, besser. In der Forschung hat man zum Beispiel Menschen eine Reihe aus einem Dutzend Buchstaben gezeigt, in der auch 2 Ziffern vorkamen: ASDKEHAG99SFOU. Die Ziffern weichen ab, sie wirst Du dir merken. Dieser Effekt kann nutzbar gemacht werden, um bestimmte Informationen besser lernen zu können, oder um im Marketing etwas hervorzuheben. Er kann jedoch auch zu Fehlentscheidungen führen.
Der Bizarreness effect bedeutet, dass bizarre Ereignisse besser erinnert werden können als weniger bizarre. Der Effekt ist wissenschaftlich umstritten. Ich finde, er ist real.
Wenn Dir Agilisten, Key Note Speaker oder Berater erzählen, die Welt sei VUCA, die Welt von heute brauche meist Kreativität statt Wissen oder „People“ sei wichtiger als „Processes“… dann ist da in vielen Fällen was dran. Aber es ist auch eine gigantische Falle darin versteckt. In der potentiellen Verwechslung von „Kreativität, Fehlerkultur und Systemischem Denken“ mit „Disziplinlosigkeit, kultivierter Ahnungslosigkeit und Cherry Picking“. Gerade größere Unternehmen müssen schnell interne Kompetenz aufbauen, um diese Fehler zu vermeiden. Beim Einkauf von Trainern, Coaches und Beratern – bei der Gestaltung interner Kommunikation – bei der Begleitung von Nachwuchsführungskräften etc. Was diese Fallen genau sind und warum erfolgreiche agile Unternehmen sehr sehr sehr viel Wert auf Prozesse und Wissen legen, und warum alle Welt das Thema Fehlerkultur am Punkt vorbei diskutiert, darum geht es heute.
Was sind die Fallen beim Thema Kreativität, Fehlerkultur und Systemisches Denken?
VUCA is (to some extent) what YOU do!
Die größte Falle ist, wenn man glaubt das eigene Team oder Unternehmen müsse sich zwischen Rot und Blau entscheiden. Als wäre die Welt vor 2000 ausschließlich simpel gewesen und nach 2001 ausschließlich komplex oder so. Das ist nicht so. Die Welt wird scheinbar immer mehr VUCA, aber mal provokant gefragt: vielleicht machen wir sie ja selber VUCA? Ich erinnere an die Debatten der 90er und 2000er, die sich um die extreme Individualisierung drehten. Wenn jede*r alles „so macht wie ich es halt machen will“ trägt das schonmal viel bei zu A und C. Man kann sich aber auch zusammenreißen (auf Arbeit) und diszipliniert verhalten, an Prozesse und Standards halten etc. dann kommen manchmal hammer Ergebnisse raus. Dann kann aber nicht jede*r wie ih*r grad ist. Muss man halt mögen.
Team und Abteilung sind out. Das heißt jetzt Train, Squat, Tribe, Guild, Chapter, … you name it
Auch das frenetisch Aufspringen auf immer neue Tools, Apps und Hypes macht Die Welt enorm V, U, C und A (schon wieder von Deon weg hin zu Miro? Wie geht das denn jetzt wieder? Welche Software für was? Ist das eigentlich erlaubt?). Auch das permanente Durchquirlen neuer Begriffe. Eine Pest, die alle nur verwirrt. Gerade die Vertreter*innen der schönen neuen roten Welt schmeißen nur so um sich mit völlig unetablierten (und unnützen) Termini. Das macht alles nur VUCAiger als nötig. Weils kein Mensch checkt (der den Arsch voll mit echter Arbeit hat).
Kultivierung der Ahnungslosigkeit – oder „das kann man dann ja brainstormen“
Der zweite Fehler ist, wenn man glaubt, Wissen sei unnötig, solange man kreativ ist. Das begegnet mit immer dann, wenn tausende in die Design Thinking Seminare strömen, aber nur 3 in die Power Automate Session. Ideation, Brainstorming, Personas erfinden (ja leider!), Lösungen fühlen – was auch immer du an tollen Methoden reinziehst: Wenn du in deiner Branche eine Rolle spielen willst, was verändern willst, die Firma retten oder Märkte erobern – dann musst du nach wie vor auch eine Menge WISSEN. Richtig was KÖNNEN. Wer wird denn mit Traum Einstiegsgehalt gelockt? Scrum Master, Design Thinker, Brainstorming-Moderatoren, Achtsamkeitscoaches – oder Coder, Anwälte, Finanzer, Mathematiker? Letztere, weil sie richtig was wissen. Ja Soft Skill ist das neue Hard Skill. Das heißt: wenn der Mathematiker zusätzlich ein wenig teamfähiger wird, dass ihm dann die Welt gehört. An allen Ecken und Enden werden Leute gesucht, die was wissen. Der Spruch heißt nicht, dass Du in einer zunehmend digitalen, automatisierten, sauschnellen, globalisierten, verzwickten Welt jetzt mit ein paar Zertifikaten in TheorieU, Advanced Business Canvassing und Systemischem Aufstellen irgendwen vom Hocker reißt.
Heute könnte fast jeder zweite Workshop heißen „Hilfe! WTF müssen wir tun, was können wir tun, was dürfen wir überhaupt tun?“
Und systemisch, ja, also… sicherlich ist alles ein System. Sicherlich musste auch ich Luhmann lesen. Natürlich wirkt alles irgendwie auf alles. Und ich bemerke in meiner täglichen Arbeit sogar, dass die Mehrheit der Menschen inzwischen „Systemisch“ nicht mehr für einen Chakra Tanz hält, sondern am eigenen Leibe spürt, wie wechselwirkend alles inzwischen ist. Früher gab es Workshops, die hießen „Prozessoptimierung“, „Strategieworkshop“ oder „Teambuilding“, schön klar umrissen. Heute könnte fast jeder zweite Workshop heißen „Hilfe! WTF müssen wir tun, was können wir tun, was dürfen wir überhaupt tun? Was wollen wir individuell tun und wofür tun wir das überhaupt? Ach wir tun es längst, ah Hilfe!“ Die Falle im Narrativ vom „Systemischen“ ist, wenn zu viele Leute nur noch um diesen System-Brei herumreden und immer weniger Leute Dinge tun. Denn Dinge tun führt immer noch zu Geld verdienen. Das hat sich nicht verändert.
Warum legen erfolgreiche Unternehmen entgegen typischer aktueller Narrative SEHR viel Wert auf Prozesse und Wissen?
Alle Unternehmen, die derzeit die Märkte dominieren, haben in der Aufbruchsphase evtl. hoch kreativ ausprobiert, Ideen gebrainstormed, crazy Kram gemacht, geschenkt. Aber sobald sie wussten, wo der Zaster liegt, haben sie Prozesse perfektioniert und Wissen gehäuft. Muss ich noch Google, Tesla, Netflix, Apple sagen? Da flutscht alles. Eine tolle UX, vernetzte Rechenzentren oder das Kapern ganzer Wertschöpfungsketten sind keine Folge von Kreativität. Es sind vor allem Folgen von harter kluger Arbeit, Skrupellosigkeit, Bergen an Budgets sowie Anpassungsfähigkeit (der eigenen Prozesse!)
„People over Process“ und Kundenfokus sind oft nur eine hohle Phrase. Geh doch mal zum Scrum Team und sage „Für den Kunden und uns alle wäre es super wichtig, dass der und der Knopf sofort grün gemacht wird“. Was passiert dann? People? Nee, Process! „Talk to my Backlog“ wird die Antwort sein. Die Coder haben sich mit Sprintzyklen zeitliche Reviere der Macht geschaffen. Lasst uns 4 Wochen in Ruhe an meinem Code mokeln, ihr People.
Zum Wissen brauche ich nichts mehr zu sagen, oder? Klar, in komplexen Situationen kann man nicht alles vorher wissen, per Definition. Sonst wäre es ja nur kompliziert. Oder gar simpel. Aber wenn Du Wissen in die alte Ecke stellst (blaue Welt, überholt, starr, …) dann gehst du zu weit. Intuition, Fachwissen, Weltwissen, Lebenserfahrung, Methodenwissen, Insights in Themen an die nicht jeder rankommt – das alles verliert nicht einen Millimeter an Bedeutung. Wenn du darauf pfeifst, dann nehme ich dir sofort alle Teammitglieder weg, die irgendwas wissen. Du kriegst stattdessen ausschließlich Leute, die gar nichts wissen aber super kreativ sind. Have fun!
Warum wird beim Thema Fehlerkultur oft am Punkt vorbeidiskutiert?
Angenommen bei Netflix baut jemand Mist. Er handelt gegen Abmachungen, hält sich nicht an Qualitätsvorgaben, schummelt oder kümmert sich nicht genug um ein Thema und nun ist die finale Staffel von Supernatural offline. 🤯 Ja glaubt ihr, er kriegt weniger Ärger als jemand, der für die ARD Mediathek arbeitet? Fehler sind Fehler. Klar, man muss nicht gleich rausgeworfen werden. Klar kann man aus Fehlern auch lernen. Und manchen ist ein MA, der Fehler gemacht hat (also die Chance zum Lernen hatte) wertvoller als MA, die noch nichts dazugelernt haben. Aber das hat nichts mit Agilität oder neuer Führung, New Work, Achtsamkeit oder irgendwas sonst zu tun. Das ist seit Jahrtausenden in jeder Organisation, Familie oder Gesellschaft ein wichtiges Thema: wie wird mit Fehlern umgegangen? Wie diszipliniert verhalten wir uns? Das viel gelobte (und super wichtige) Vertrauen kommt ja auch nicht von allein, es wird durch Compliance erworben.
Was jedoch bei Netflix und Co. in Puncto Fehlerkultur anders gemacht wird, ist: sie managen das Ausprobieren anders. AB Testing, olle Kamelle, aber manche machen das halt professionell. Andere machen denselben „richtigen“ alten Kram auf Gedeih und Verderb weiter. Fail fast, often and forward ist die Maxime erfolgreicher Unternehmen. Sie gehen aber nicht in dem Sinne anders mit „Fehlern“ um. Ergebnisse aus Versuchen sind keine Fehler, sondern Erkenntnisse.
Fehler machen im Sinne von Verfehlungen, etwas falsch machen, ist doch ganz was anderes als Ausprobieren. Anstatt also dein ganzes Unternehmen auf den Kopf zu stellen, alle müssten jetzt mal aufhören, Fehler zu kritisieren, solltest du lieber rumlaufen mit einem Schild: „Wir müssen endlich professionell ausprobieren und datenbasiert Erkenntnisse gewinnen!“ Klingt halt nicht so fancy wie Fehlerkultur.
Fazit
Ich habe für mich selbst sehr viel gelernt in Umgebungen, in denen Fehler sehr gefährlich waren und entsprechend hart und fair kritisiert wurden. Verantwortung, Umgang mit Kritik, Umgang mit Scham, Umgang mit Scheitern, Wachstum durch Selbstreflektion. Diese Erfahrungen empfehle ich allen, die viel von Fehlerkultur sprechen. Sie sind so wertvoll.
Sprecht weniger von Fehlerkultur, mehr vom professionellen Management des Erkenntnisgewinns. Oder meinetwegen AB Testing. Oder Fail Fast, Often and Forward. Oder Lernende Organisation.
Soft ist das neue Hard Skill. Ok. Aber Hard ist auch das neue Soft Skill. Um Wissen kannst du dich nicht drücken. Auch nicht in der VUCA Welt.
Erfolgreiche Unternehmen schaffen Prozesse nicht ab sondern halten sie ein. Weniger erfolgreiche schaffen sie nicht ab UND halten sie nicht ein.
Wenn man sich nicht bemüht, die tatsächliche statistische Wahrscheinlichkeit von etwas zu ermitteln, sondern stattdessen auf den GMV (gesunden Menschenverstand) vertraut, dann baut man seine Einschätzung meist auf irreführende Stereotype. Was das für Dein Leben, und vor allem berufliche Entscheidungen bedeutet, darum geht es heute.
„Gechillte Leute haben keine Ahnung, wie es wütenden Leuten grade ergeht – und andersherum“
Wir sind mies darin, vorherzusagen, wie wir in einer ganz anderen Situation empfinden WÜRDEN. Sind wir zum Beispiel gerade sehr wütend, können wir uns nicht präzise ausmalen, wie wir fühlen, denken und handeln würden, sobald wir uns wieder abgeregt haben. Was heißt das fürs Berufsleben und was kann man tun?
„Was ersteinmal Deine Aufmerksamkeit erregt, das siehst du plötzlich überall“
Wir neigen dazu, Dinge plötzlich überall zu sehen, weil jemand uns darauf aufmerksam gemacht hat. Unsere Aufmerksamkeit ist geweckt für etwas, was wir bis dahin als irrelevant ignoriert haben. So funktioniert ja auch Werbung. So funktioniert aber auch alles andere – Politische Diskurse, Beziehungen, Business. Lass Dich davon nicht fehlleiten.
Die meisten werden wissen, dass unser Gehirn sich vor allem dann gerne Dinge merkt, wenn die Erinnerung an etwas Auffälliges oder an den Kontext geknüpft werden kann, in dem gelernt wurde. 1975 sollten zwei Gruppen 36 zufällige Begriffe auswendig lernen. Die einen lernten unter Wasser, die anderen an Land. Dann wurde geprüft, wie viel sie erinnern konnten – jeweils Unterwasser oder an Land. Unter Wasser konnte die Gruppe mehr Begriffe erinnern, die auch unter Wasser gelernt hatte (38% Erinnerung vs. 21%). Für die Landratten galt dasselbe (32% vs. 21%). Heute geht’s darum, was das für uns im Kontext Führung, Schulung, Strategie und Kulturwandel heißen kann.
„Meine Antwort ist ganz klar… eine andere als noch vor ein paar Minuten“
Auf dem hier habe ich lange herum gekaut. Dass der Kontext unsere Entscheidungen beeinflusst, erschien mir zu banal, um darüber zu schreiben. Doch irgendwas reizte mich. Letztlich machte es Klick, als ich mit einer anderen Führungskraft darüber sprach, dass wir alle an der Welt mit gestalten, in der wir leben. Nicht nur im Sinne der Umwelt, oder das wir die physische Welt gestalten, die wir unseren Nachkommen vererben. Sondern vor allem im Dinne der Atmosphäre, die man schafft. Im Sinne der Storyline eines Arbeitstages: Arbeite ich eigentlich irgendwelche Todos ab, oder hat mein Wirken einen Kontext? Bestimme ich diesen Kontext eigentlich mit? Und gefällt der mir? Bewerte ich andere Menschen vielleicht ungerecht, weil ich mich vom Kontext zu sehr lenken lasse? Somit wird das Thema „in welchem Kontext verbringe ich meinen Tag? Macht Kontext mich ungerecht? Welchen Kontext erzeuge ich selbst?“ zu einer ganz essentiellen Angelegenheit. Faszinierend!
Mere-Exposure-Effect (bloßes Ausgesetztsein) ist, wenn man einen Menschen oder eine Sache anfangs neutral beurteilte, aber mit der Zeit immer positiver empfindet. Das kann natürlich daran liegen, dass z.B. die Person wirklich gute Seiten gezeigt hat. Unser Gehirn neigt aber dazu, auch ohne jegliche Fakten, einen Menschen mit der Zeit besser zu finden, einfach weil man ihn oft gesehen hat.
Heute geht es darum, wie der Effekt Dein Führungsverhalten negativ beeinflusst und was Du tun kannst…
Der Wahrheitseffekt (engl. truth effect, illusory truth effect, frequency validity effect; auch Validity-Effekt oder Reiterationseffekt) beschreibt folgendes Phänomen: Aussagen, die Du bereits früher einmal gehört oder gelesen hast, hältst Du für richtiger oder wahrscheinlicher, als wenn Du sie heute zum ersten Mal hörst. Sozusagen Fremdenfeindlichkeit gegenüber Aussagen: alles Neue wird beäugt, was man hingegen schon kennt, wird in Ordnung sein. Wie kommt das? Wie damit umgehen?