Seit ca. 20 Jahren leite ich interdisziplinäre Projekte, oft ohne direkte formale Macht. Das gelang mir immer recht gut. Doch erst, seitdem ich andere ProjektleiterInnen begleite, verstehe ich nach und nach die eigentlichen Erfolgsfaktoren, die es braucht, um den „Sack Flöhe“ organisiert zu bekommen. Hier meine bescheidenen Lessons Learned aus 10 Jahren Begleitung interdisziplinärer Projekte, frisch vom Grill geteilt mit Euch:
Was sind die hauptsächlichen Unterschiede zwischen einem festen Projektteam (oder sogar einem organisatorisch verankerten Team) und einem interdisziplinären Projektteam? Ich meine damit nicht ein Team mit gemischten Skills. Ich meine den Fall, dass unterschiedliche Gewerke oder Abteilungen Menschen für das Projekt „abstellen“ wie man so doof sagt. Also temporär entsenden oder schlimmer noch, einige Stunden pro Woche „immer mal mitmachen lassen“. Die Unterschiede zum festen Team sind enorm:
- Du setzt oft nicht auf grüner Wiese auf, Du schlidderst in braunes Sediment hinein
- Du bist nicht die Chefin, Du bist eher sowas wie der Zahnarzt
- Du hast wahrscheinlich keine Ahnung, hoffentlich haben sie die Anderen!
- Du brauchst wertvolle Beziehungen, aber ausgerechnet dafür hast Du keine Zeit
- Du hast Deine Ziele… wir haben unsere…
- Du musst überleben auf dem schmalen Grat zwischen „Schlucht der Irrelevanz“ und „Felskante der Organisations-Silos“
1. Greenfields gibt es im Irlandurlaub, in der Projektarbeit nur ganz selten!
Leider werden interdisziplinäre Projekte oft aufgesetzt, nachdem in den einzelnen Silos längst Vorprojekte gescheitert sind. Manchmal haben diese nicht miteinander geredet. Manchmal kannten sie sich nicht mal gegenseitig. Und wenn dann alles im Graben liegt, wird halt ein großes Projekt aufgesetzt.
Die ersten Stimmen dazu werden in etwa lauten: „alle an einen Tisch“ oder „ganz neu anfangen jetzt“. Doch schnell werden folgende Stimmen dazukommen: „Halt! Nicht ganz neu – wir haben doch schon so viel investiert“. Und „wir haben schon ein System gelauncht, das muss jetzt aber weiter genutzt werden“. Und „wir haben die angepeilten Kunden des Projekts schon so oft mit Anforderungsabfragen genervt, da brauchen wir nicht nochmal ankommen mit“.
Du als Leiterin eines interdisziplinären Projektes schlidderst mitten rein in mehrere Sedimentschichten. Klatsch! Da bleibt schnell mal ein Stiefel stecken. Mit Sediment kann man auf zwei Arten umgehen: bloss nicht aufwirbeln oder den großen Saugbagger holen. Ich empfehle in den meisten Fällen das erstere: Wenn Du nicht alle Altlasten früh vollständig entsorgt bekommst, um auf frischem Boden neu anzufangen, dann lass eher Schlamm Schlamm sein. Unterbinde frühzeitig (und wertschätzend) jegliche Versuche, alten Schlick als frischen Strandsand zu verkaufen. Finde Wege, neue Lösungen aus der neuen interdisziplinären Zusammensetzung des Teams heraus zu entwickeln. Und wenn diese Lösungen der einen oder anderen alten Idee gleichen, dann feiert gemeinsam diese Erkenntnis. Es ist dann aber Eure gemeinsame. Tappe nicht in die Falle, dass Du die Klagemauer wirst für alle gescheiterten Ideen aus der Zeit vor Deinem Projekt!
In seltenen Fällen bekommst Du die Chance, den Saugbagger zu holen, dann greif zu. Verfalle nicht der „Sunk Cost Fallacy“, dem Irrglauben, versenktes Geld durch noch mehr Geld zu retten.
2. Facetime ist nicht gleich Facetime (frage mal meinen Vorstand und meinen Zahnarzt)
Interdisziplinär klingt so schön. Fast wie ein Werbefoto mit Models aller Hautfarben – meist witzigerweise alle jung, frisch von der Uni… Ja und es klingt modern. Alle sind dabei. Alle bringen sich ein. Alle kommen zu Deinem Jour Fixe. Autsch. Hier kommt der linke Haken der Realität. Viele von Euch werden wissen, dass es nciht Jours Fixe, oder Jour Fix heißt. Manche werden grad noch wissen, dass das Wort weder englisch noch französisch ist (sondern irgendwas Erfundenes). Aber kaum einer wird wissen, dass das Erscheinen bei einem Jour Fixe ursprünglich freiwillig war. Gute Jours Fixes (oder im Plural auch Jour Fixe?) hatten sich ihre Beliebtheit erarbeitet und die Teilnehmer stimmten gnadenlos mit den Füßen ab.
Wie bekommt man nun ein Team regelmäßig zusammen, ohne dass man ihren Arbeitsplatz in ein gemeinsames Büro verlegt? Halt! Das könnte auch eine Lösung sein: Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, dass Arbeitsplätze wenigstens temporär in ein gemeinsames Büro verlegt wurden. Projekthaus hieß das dann, sobald es um mehr ging als ein paar Tische und Stühle. Oder signalisiere wenigstens durch Freihalten von Stammplätzen den Teammitgliedern, dass sie immer willkommen sind. Spätestens seit Corona kann man auch remote Wege finden, Teamverbundenheit zu stärken.
Aber Räume sind nicht alles. Bist Du selbst eigentlich ein People Magnet? Ich habe wenigstens immer Eis mitgebracht. Oder eine spannende Story. Oder aufregende kleine Sonderprojekte. Oder positives Feedback von den Projektkunden. Oder eine Vorstandspräse mit den Herausforderungen des nächsten Jahres – „exklusiv für Euch, meine geliebten Projektpartner aus den anderen Bereichen!“ Wohlgemerkt: Mitgebracht! Denn ich war viel öfter bei meinen Projektmitgliedern, dort wo die den ganzen Tag arbeiten, als dass ich sie zu mir in den Jour Fixe Raum zitiert hätte. Dahin kamen sie aufgrund des funktionierenden Team Spirits dann von allein, pünktlich und regelmäßig.
3. Interdisziplinär heißt: Alle wissens besser. Mach was draus.
Mein erstes größeres Projekt setzte sich aus Leuten zusammen, die sehr unterschiedliche Hintergünde hatten. Design, Konstruktion, AR/VR, IT, Marketing, Training, Berater, Agenturen, … inklusive Externer waren wir immerhin über 40 Personen. Alle hatten ihre eigene Sprache, ihre speziellen Denkweisen, ihre Arbeitsmethoden. Das ging manchmal ziemlich hin und her zwischen den Gewerken. Ich meine hier nicht Zielkonflikte, die behandle ich später. Ich meine: Man sprach mit Leidenschaft aneinander vorbei.
Vielleicht war es ganz nützlich, dass ich eher journalistisch ausgebildet war, mit einem Schuss Selfmade-Projektmanager. Das gab mir zumindest eine gehörige Portion Pragmatik und Bescheidenheit mit – fachlich konnte ich keinem das Wasser reichen. Die drei größten Herausforderungen waren gleichzeitig auch die drei größten Erfolgsfaktoren: Jede Partei kennenlernen, verstehen, zwischen allen und mir übersetzen. Unermüdlich.
Wer es nicht selbst erlebt hat, der wird kaum glauben, wie unterschiedlich die Denke und die Sprache von Menschen ist, die nicht aus derselben Ausbildung oder Arbeitswelt stammen. Stecke mal einen Anwalt, einen Profisportler und einen Landschaftsgestalter in ein interdisziplinäres Team… Wer dann nicht zwischen den Parteien übersetzt, macht mehrere Dinge falsch: Er wird selbst nicht verstanden werden. Er wird die anderen nicht verstehen. Die anderen werden sich untereinander nicht verstehen. Und das eigentliche Potential der interdisziplinären Besetzung wird gar nicht gehoben. Es entsteht dann eine seltsame Gruppe, die schlechtere Leistungen bringt, als eine völlig homogene – und Frust.
Ich habe daher immer viel Zeit darauf verwendet, die anderen zu verstehen und zwischen den Parteien hin und her zu laufen, um zu vermitteln. Durch irgendeine Tätigkeit muss das interdisziplinäre Wissen ja verknüpft werden. Die Welt ist schließlich nicht CSI wo Genies sich einfach so die Bälle zuwerfen.
Oft musste ich auch den Funken der Begeisterung (oder der Dringlichkeit) transportieren, der es nicht von einer Partei zur anderen geschafft hatte, trotz mehrmaligen Zündens der einen Seite. Ein Beispiel? Ein Coder findet es evtl. total enervierend, mitten im Sprint die fucking Farbe eines Knopfes zu ändern, Backlog Position #12938123. Aber wenn die Oberoberchefin aus dem Marketing nunmal morgen drauf guckt und als erstes denkt „bäh, die mega hässlichen Knöppe sind ja immer noch da“… Tja, ich mag es echt nicht, wenn man Experten ins Handwerk pfuscht, in diesem Fall dem SCRUM Team mit seinem eventuell vorhandenen SM. Aber manchmal entscheidet über Leben und Tod eines Projektes eben nicht, dass man die SCRUM Regeln für Sprintbacklogs eingehalten hat, sondern dass Du als interdisziplinärer Projektleiter durchgreifst, wenn Du den Weltuntergang kommen siehst. Dafür muss man sich gut verstehen und sich vertrauen. (Ein bisschen fachliche Kenntnis schadet aber auch hierbei nicht).
4. Keine Zeit ist immer – nutze sie für den Beziehungsaufbau
Natürlich hast Du keine Zeit, Dich mit allen im Projekt regelmäßig auch über das rein Fachliche hinaus zu unterhalten. Deswegen verbringst Du ja auch so viel Zeit mit denen, deren Nasen Dir besser passen, ne? Beziehungsaufbau ist essentiell. Überlass das nicht Deinem Geschmack für den richtigen Mittagspartner!
Jede Minute, die Du heute investierst, spart Dir morgen 2. Richtig effektive Manager sind auch deswegen so erfolgreich, weil sie die richtigen Leute kennen. Ich meine kennen. Nicht „mal im Meeting gesehen“ oder deren Namen aus dem Telefonbuch kennen. Richtig uneffektive Leute – steile These jetzt mal – gehen jeden verdammten Tag mit denselben ineffektiven Menschen zum Mittag. Sicher super liebe Leute, aber über Sympathie schreib ich ja gerade nicht.
Das Netzwerk dass Du aufbaust, ist übrigens auch ein wesentlicher Teil Deiner Leistung für Deine Firma. Es ist nicht egoistisch, sich zu vernetzen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass einige Menschen Netzwerke als Filz empfinden. Doch Firmen sind Konstrukte aus Menschen. Wenn die ganz ohne Vernetzung und gegenseitiges Vertrauen arbeiten könnten, wären sie die Borg oder eine Murmelbahn oder ein Ameisenhaufen. Vernetzungsarbeit ist genauso Arbeit wie andere Todos. Priorisiere Vernetzung nicht nach unten. Priorisiere permanentes „sich rumschlagen mit vermeintlichen Idioten, deren Tun und Denken Du nicht verstehst“ nach unten. Denn wahrscheinlich verstehst Du sie nur deshalb nicht, weil Du dich nicht genug mit ihnen und ihrer Welt auseinander gesetzt hast. Klar gilt das mit dem Vernetzen auch für Teamleiter fester Teams und generell für jeden. Für interdiszinplinäre Projektleiter ohne Macht ist es aber lebensnotwendig.
5. Es ist gut, Ziele zu haben. Gemeinsame Ziele wären herzallerliebst
Die oben beschrieben Punkte werden Dir helfen, eine möglichst partnerschaftliche Beziehung zu allen aufzunehmen, das geht auch nicht anders. Ohne offene Bücher keine offenen Türen und keine offenen Herzen! Stattdessen viele offene Tasks. In Deinem Projekt treffen all die Welten, Sprachen und Zielsetzungen, ja auch die versteckten Agenden der einzelnen entsendenden Bereichen aufeinander – na und? Ist doch spannend. Du kannst das Optimun für alle suchen, vermitteln, verhandeln, Knoten durchschlagen. Das geht aber nur, wenn Du die Ziele aller kennst. Wenn sie sie Dir offenlegen. Dabei hilft keine Aufgabenverteilungsexcel und kein Projektsteckbrief. Dabei hilft Vertrauen und gegenseitiges Interesse.
Es ist ganz normal, dass ihr alle unterschiedlichen Herren dient und Zielkonflikte habt. Lass das nie zum eigentlichen Hemmschuh werden, sondern strebe im Team einen offenen, gut gelaunten, sportlichen Umgang mit dieser Realität an.
6. Unterm Radar: ignoriert. Auf dem Radar: flambiert
Interdisziplinäre Projekte sind manchmal Chefsache. Manchmal aber auch nicht. Meist sind sie was dazwischen. Meist mokeln sie vor sich hin und heischen der Aufmerksamkeit der Obrigkeit ohne viel Erfolg. Aber wehe, es knirscht. Dann kommen die Steuerkreise näher. Eskalationsprozess…
Oder wehe, Dein Projektteam erfindet neue Prozesse, die der einen oder andern entsendenden Abteilung ins Revier hageln – herrjeh – Projekt machen gern, aber die Welt verändern bitte nicht. Da könnte ja jeder kommen.
Daher flüchten sich manche Projekte bewusst in den Keller, bloß nicht auffallen, sonst reden die alle mit. Lasst uns hier mal schön in Ruhe unser Ding machen.
Als Leiterin eines interdisziplinären Projektes solltest Du alle Register ziehen, um die nötige Balance zwischen Freiheit und Aufmerksamkeit zu bekommen – und zwar zur richtigen Zeit. Dazu kann auch mal der Keller gehören. Aber eben auch mal das Oberdeck!
Ganz ganz wichtig ist, dass das Projekt von den wichtigsten Leuten in der Initiierung getragen wird, dann wenn festgelegt wird, worum es geht, wer mitmachen soll und was man sich erhofft.
Eher unwichtig ist diese Aufmerksamkeit in der Phase des Teambuildings, wenn alles aufgesetzt wird. Regelmäßig einen Wasserstand durchgeben, auch proaktiv, kann hingegen selten schaden.
Super wichtig wird es wieder, wenn Du siehst, dass die Projektziele wesentlich verfehlt werden könnten. Und zwar sowohl, um dies früh offengelegt zu haben, als auch, um der Obrigkeit deinen Plan vorzulegen, was Du zu tun gedenkst, oder auch um Support zu bekommen. Melde bloß niemals eine drohende Katastrophe an, ohne Deinen Plan, was Du jetzt tun willst. Ein Brandmelder ist im Gegensatz zu einem Feuerwehrauto ein günstiges, austauschbares Gerät – you know what I mean?
Zuguterletzt ist es eine Kunst zu entscheiden, dass ein Projekt auch mal zuende ist. Du kannst hier mit steuern. Beende das Projekt, wann Du es für richtig hältst, anstatt ewig weiter zu machen, in der Hoffnung, jemand kommt und sagt: das läuft aber super hier. Dann seid Ihr kein Projekt, sondern eine Institution und fangt sofort an zu verkrusten. Außerdem wird sich bald der Rotstift zeigen. 10% Effizienz jährlich werden doch wohl drin sein. Und wenns so gut läuft bei Euch, dann kippen wir doch noch dies und dies und das bei Euch rein! Lieber ein Ende mit großer Party und ein Folgeprojekt aufsetzen!
FAZIT
Wenige Menschen haben, was es braucht, um ein größeres interdisziplinäres Projekt erfolgreich zu leiten. Sofern ihr kein Rohrkrepierer seid, sondern ein Projekt unter Dampf, geht es bei euch schneller, komplexer und politischer zu als bei den Kollegen in den Linienteams. Eine bessere Schule für angehende Führungskarrieren gibt es aber kaum. Stürz dich hinein!