Als interessante Nebendiskussion zum Thema Gentrifizierung in Großstädten hatte ich neulich mit anderen Eltern das Gesprächsthema Revierverhältnisse zuhause im Laufe der Generationen. Gentrifizierung ist wenn Bevölkerungsgruppen einander hinterherziehen und dabei ganze Stadtviertel umwälzen. Meist von schäbig über hip hin zu unbezahlbar, sodass die Urbewohner wegziehen müssen. Dieser Artikel nimmt das freilich nicht so genau.
Eine kleine Chronik der Gentrifizierung der guten Stube.
Bis in die 70er: Die Gute Stube ist abgeschlossen, nur für Gäste am Sonntag. Das Fernsehzimmer wird streng regiert von Oma. Kinder raus, bis es dunkel wird. Buntes Treiben auf dem Hof und auf der Straße. Kinder laufen vom Stall zum Garten zum Wald zum Nachbarn zum Dorfteich und zurück. Eigene Kinderzimmer sind nicht so verbreitet.
Bis in die 2000er: die Gute Stube gibt es nicht mehr. Sie wurde mit dem Fernsehzimmer zum großen Wohnzimmer für alle zusammengefasst. Abgeschlossen ist kein Raum mehr. Kinder erobern langsam das Haus. Wenn es zu bunt wird, müssen sie ausnahmsweise mal das „WoZi“ verlassen – und zwar in ihr inzwischen vorhandenes Kinderzimmer bzw. in den neu erfundenen Tobekeller. Wirklich tabu ist höchstens noch der Werkraum.
Heute: die gute Stube ist nur noch eine vage Erinnerung. Die lieben Racker haben das Haus gänzlich für sich erobert. Im Wohnzimmer, Wohnküche, Klo, Flur, Schlafzimmer, überall Spielzeug. Auch im Garten, Carport, Terrasse, Keller, … die Kinderchen mögen teilweise gar nicht mehr alleine spielen, oder miteinander, sondern wünschen zusätzlich zum Haus auch die ungeteilte Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Ich meine nicht Kleinkinder unter 4 Jahren. Mit denen spielt man natürlich viel. Ich meine 5, 8, 10 Jährige, die Fernseher, Küche, Sofa und Erwachsene als ihre Entertainmentumgebung brauchen, sonst ist alles #laaangweilig. Erwachsene können kaum noch Gespräche führen, nach 10 Sekunden kommt die Unterbrechung. Eltern, die reden wollen, treffen sich nachts oder müssen nach draußen(!).
These: Was jetzt also aufgrund der Vertreibung durch unseren Nachwuchs zunehmend wieder entstehen wird, sind „Gute Stuben 2.0“. Ja, ich meine das ernst. Erwachsenenräume mit Tabucharakter für alles unter – sagen wir 25 – werden wieder kommen. Schlagzeugzimmer, Nähraum, Kraftraum, Yogastudio, Werkraum. Abgeschlossen. Kein Spielzeug. Meins! Und so dreht sich das Gentrifizierungsrad einmal rum.
(Wir lieben natürlich unsere 2 Kinder. Nicht missverstehen bitte. Dieser kleine Artikel hier ist kein Kinderhass, nur eine Herleitung der These „Gute Stube 2.0“.)